Westfälisches Volksblatt vom 28.08.2024 von Nina Bühner
PADERBORN (WV). Diebstahl, Körperverletzung, Sachbeschädigung: Kriminalität hat viele Gesichter. Die Initiative „Kurve kriegen“ möchte junge Menschen vor einer Karriere als Intensivstraftäter bewahren.
Kinder und Jugendliche, die eine kriminelle Laufbahn einschlagen – Etwas, das jeden Tag geschieht, auch im Kreis Paderborn. Und es wäre einfach, diese Kinder und Jugendlichen schlichtweg auf ihre kriminellen Taten zu reduzieren und sie alle in einen Topf zu werfen.
Die NRW-Initiative „Kurve kriegen“ hat einen anderen Ansatz. Im Fokus hierbei: Der individuelle Mensch hinter der Straftat und sein „Warum“. Denn dieses Warum ist mindestens genauso vielfältig, wie die Wege zu den Kindern und Jugendlichen durchzudringen.
Ab wann spricht man von einem Intensivtäter?
Ins Leben gerufen wurde die Initiative des Ministeriums des Inneren im Jahr 2016. Durch ihren kriminalpräventiven Ansatz setzt sie sehr früh an und möchte verhindern, dass Kinder und Jugendliche in einer kriminellen Karriere feststecken. Doch ab wann wird ein Mensch überhaupt als Intensivtäter deklariert? „Von einem Intensivtäter sprechen wir ab einer Anzahl von fünf Straftaten pro Jahr“, berichtet Niels Niemann von der Kreispolizeibehörde Paderborn, die die Kampagne mit unterstützt. Gemeinsam mit Stefanie Reike ist er einer der polizeilichen Ansprechpartner der Kampagne.
„Die Kampagne richtet sich überwiegend an Kinder und Jugendliche im Alter von acht bis 15 Jahren“, sagt Stefanie Reike. „Wir möchten nicht nur die Jugendlichen davor bewahren, Intensivtäter zu werden, sondern auch verhindern, dass viele Menschen Opfer solcher Täter werden. Somit vertritt diese Initiative zwei kriminalpräventive Ansätze“, erzählt Niels Niemann weiter. Wie die Initiative zusätzlich auf ihrer Website schreibt, richtet sie sich an Kinder und Jugendliche, die in diesem Alter durch mindestens eine Gewalttat oder drei Eigentumsdelikte polizeilich in Erscheinung getreten seien.
Doch nicht nur die Polizei, auch andere Behörden und Verbände sind involviert. „In Paderborn ist die Besonderheit, dass wir an die Jugendsachbearbeitung angedockt sind, was noch einmal eine intensivere Zusammenarbeit ermöglicht“, sagt Reike.
Einer von ihnen ist auch Jürgen Kenkel vom Caritasverband Paderborn. Als Pädagogische Fachkraft hilft er jungen Menschen innerhalb der Kampagne dabei, buchstäblich die Kurve zu kriegen. „Ich trete direkt mit den Kindern und Jugendlichen in Kontakt, besuche sie zu Hause und versuche, einen Zugang zu ihnen zu erlangen. Dies ist natürlich nicht immer ganz einfach“, sagt er.
Die Kontaktaufnahme geschieht daher in einem sogenannten Dreierschritt: schriftlich, telefonisch und schließlich persönlich. Zunächst durch die Polizei, anschließend, wenn sich die Eltern bereit erklären Hilfe zu suchen, durch die Pädagogischen Fachkräfte, wie Jürgen Kenkel sagt. Dies habe den Hintergrund, um nicht gleich mit der Tür ins Haus zu fallen, offen zu kommunizieren und eventuelle Vorurteile abzubauen. „Für die Familien entstehen keine Kosten und wir unterliegen der Schweigepflicht. Alles, was in diesem privaten Raum gesprochen wird, bleibt auch in diesem Raum,“ sagt Kenkel.
Kriminelle Interaktion hat viele Gesichter
Mobbing, Erniedrigung, Sachbeschädigung, Körperverletzung: Es gibt viele Möglichkeiten, der kriminellen Ader Ausdruck zu verleihen. Doch worin sich Polizei und Caritasverband einig sind, ist, dass es auch immer ein „Warum“ hinter den Taten gibt. Und einen Menschen mit individuellen Zügen und einem persönlichen Schicksal.
„Zu manchen komme ich einmal in der Woche. Die Kampagne ist langfristig angelegt, meist für mindestens ein Jahr. Im Durchschnitt bleiben die Kinder und Jugendlichen rund zweieinhalb Jahre“, sagt Kenkel. Zeit, in der man viel erfährt. Auch Dinge, die einen buchstäblich erschüttern, selbst mit viel Erfahrung. „Wir möchten den Menschen die Hand reichen“, fügt Niels Niemann hinzu. Oftmals würden sich die Täter bei ihren Straftaten filmen und diese in die sozialen Netzwerke stellen. Dahinter steht schlichtweg der Wunsch nach Anerkennung. „Viele Kinder und Jugendliche machen in der Initiative zum ersten Mal die Erfahrung, dass sie gesehen und wahrgenommen werden. „Und zwar abseits ihrer Straftat. Vor einiger Zeit sagte ein Jugendlicher zu mir 'Herr Kenkel, Sie sind der Erste, der mich nicht bewertet hat'. Und darum geht es: Ich bewerte sie nicht, sondern sehe den individuellen Menschen vor mir. Und darauf kommt es an“, sagt Kenkel. In diesem Jahr werden erstmalig 20 Teilnehmer gleichzeitig in die Kampagne aufgenommen. Im Durchschnitt seien es in den Jahren zuvor etwa 15 gewesen. Etwa zwei Drittel der Teilnehmer können mithilfe der Kampagne wieder auf den richtigen Weg gebracht werden. Dies geschieht auch durch weiterreichende Maßnahmen, wie beispielsweise Antiaggressionstraining. Maßnahmen, die individuell auf den jeweiligen Menschen zugeschnitten sind.
Bisher war der finanzielle Etat gesichert, doch die derzeitige Haushaltslage in Paderborn bereitet Sorge: Für die Jahre 2025 und 2026 stünden aufgrund der Einsparungen des Landes NRW eine Kürzung der frei zur Verfügung stehenden Mittel für externe Maßnahmen in Höhe von 30 Prozent bereits fest, heißt es seitens der Initiative. „Dies impliziert, dass entweder die Anzahl der Teilnehmer reduziert werden müssten oder dass nicht jedem Teilnehmer bedarfsgerecht eine Maßnahme zur Verfügung gestellt werden kann. Was ist also, wenn wir die Notwendigkeit sehen, aber das Geld dazu nicht mehr haben?“, sagt Jürgen Kenkel.